13. Oktober 2024

Tour durch Wattenscheid

Brunnen ohne Wasser - auf dem August-Bebel-Platz in Wattenscheid

Es gibt Orte, in den Vergangenheit wichtiger als Gegenwart ist. Ob sie eine Zukunft haben, ist mehr als fraglich. Wattenscheid ist so ein Ort. 

Sascha Scherhag ist mit ganzem Herzen Wattenscheider. Er ist hier aufgewachsen, liebt seinen Geburtsort, hat sein BO-Kennzeichen am Auto gegen WAT, das vor einigen Jahren wieder eingeführt wurde, ausgetauscht. Aber er wohnt in der „Feindesstadt“ wie er selber sagt, also in Bochum.

Straßenbahn-Haltestelle auf dem August-Bebel-Platz in Wattenscheid
Straßenbahn-Haltestelle auf dem August-Bebel-Platz in Wattenscheid

Seine Tour durch Wattenscheid beginnt am August-Bebel-Platz, der in anderen Zeiten mal Adolf-Hitler-Platz hieß. „Früher als Kind habe ich hier immer am Brunnen gespielt“, erzählt XY. Heute ist kein Wasser mehr im Brunnen, an der Betonumrandung sitzen keine Kinder mehr, sondern Hartz-IV-Empfänger mit Billig-Bier.

Der Brunnen – ein Symbol für den Niedergang. „Früher gab es hier einen Horten, da gab es alles“, schwärmt Sascha Scherhag. Heute prägen 1-Euro-Shops die Fußgängerzone. „Und ein Wollwort“, grinst Sascha Scherhag: „Woolworth spricht das niemand aus“.

Der Blick wandert nach oben. Oberhalb der Reklameschilder der Geschäfte sieht man die Schönheit der Einkaufsstraße. Ein schönes Jugendstil-Haus reiht sich ans nächste. Eine der schönsten Straßen im Ruhrgebiet. Wenn man richtig hinsieht.

Altes Rathaus
Altes Rathaus

Wattenscheid war einmal ein blühender Ort. Wegen der Zechen und wegen Steilmann. Nach dem Krieg expandierte das Bekleidungsunternehmen immer weiter. Deutsche Alltagsmode in Kaufhäusern und Versandkatalogen stammte aus der Fabrik in Wattenscheid. 18.000 Menschen arbeiteten noch 1998 für Steilmann. Mehrere tausend in Wattenscheid.

Firmengründer Klaus Steilmann leistete sich mit Wattenscheid 09 einen Fußballclub, der es bis in die 1. Liga schaffte. Aus Protest gegen die Eingemeindung Wattenscheids nach Bochum fuhr er zeitlebens nur Autos mit Essener Kennzeichen.

WAT-Kennzeichen
WAT-Kennzeichen

Dass es wieder WAT-Kennzeichen geben würde, erlebte der 2009 verstorbene Unternehmer nicht mehr. „Heute fahren 13.000 Autos mit WAT-Kennzeichen“, erzählt XY. Eine erstaunliche Zahl, in Wattenscheid wohnen nur 71.000 Menschen, viele zu arm, um sich ein Auto leisten zu können. Die Wattenscheider sind stolz auf ihre Stadt, haben nie verwunden, dass sie 1975 nach Bochum eingemeindet wurden. Ein Stück Unabhängigkeit symbolisieren sie mit ihren Schildern am Auto.

Kein Wunder. Wirkliche Liebe zu ihrem neuen Stadtteil haben die Bochumer nie entwickelt. Wattenscheid ist so etwas wie ein Stiefkind. Während sich Bochum mit Konzerthaus, Jahrhunderthalle, Westpark oder Bergbaumuseum aufhübscht, verfällt Wattenscheid immer mehr.

Zeche Holland
Zeche Holland

Bestes Beispiel: Der schöne Zechenturm der Zeche Holland. „Holländer haben die Zeche 1861 gegründet, deshalb trägt sie den Namen“, erklärt Sascha Scherhag. Seit den 1970 gehörte das Bergwerk zur Zeche Zollverein in Essen, 1988 wurde es endgültig stillgelegt.

Seither verrottet das Fördergerüst, eines der schönsten im Ruhrgebiet. Mittlerweile hat die Stadt einen Zaun um den Turm gezogen. Einsturzgefahr. Während überall im Ruhrgebiet alte Zechentürme renoviert wurden, verfällt der in Wattenscheid. Sascha Scherhag hofft: „Vielleicht tut sich ja doch noch mal was“.

Himmelstreppe auf der Halde Rheinelbe
Himmelstreppe auf der Halde Rheinelbe

Die Wattenscheid-Tour endet auf der Halde Rheinelbe: „Die gehört zwar heute zu Gelsenkirchen“, erklärt Sascha Scherhag: „Aber was die wenigsten wissen: Früher gehörten viele Stadtteile von Gelsenkirchen zu Wattenscheid“. In der Evangelischen Kirche gehören Gelsenkirchen und Wattenscheid bis heute zusammen.

Die Ursprünge von Wattenscheid liegen im 9. Jahrhundert. Damals gehörte das 700-Seelen-Dorf sogar zur Hanse. Wie alle Ruhrgebietsstädte erlebte Wattenscheid im 19. Jahrhundert einen Boom. 1926 erhielt das Amt Wattenscheid Stadtrechte. 60.000 Menschen lebten damals hier. Fast so viele wie heute.

Blick von der Halde Rheinelbe auf Wattenscheid
Blick von der Halde Rheinelbe auf Wattenscheid

Von der Halde hat man tatsächlich einen wunderschönen Blick auf Wattenscheid. Auf den Ort, die Kirchen, den Zechenturm und das Lohrheidestadion der SG Wattenscheid 09. Wenn der Blick nicht leider durch riesige Strommasten getrübt würde. Irgendwie typisch Wattenscheid.

Text/Fotos (c) Michael Westerhoff

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